1. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Isabella Gold

1.3. Ursachen, Risiko- und Schutzfaktoren

Mögliche Ursachen für Kindesmisshandlungen

Die Ursachen für Kindesmisshandlungen sind vielfältig, zahlreiche Faktoren können dabei eine Rolle spielen. Es handelt sich oft um vielschichtige Prozesse mit einem komplexen Zusammenspiel von Faktoren beim Kind, den Eltern samt familiärem Kontext sowie weiteren unterschiedlichen sozialen, psychologischen, ökonomischen, kulturellen und anderen Faktoren. Solche sind insbesondere: 28

  • Individuelle Ebene: Merkmale der eigenen Biografie und Persönlichkeit (z. B. belastete Kindheit, eigene Misshandlungserfahrungen, psychische Störungen).
  • Familiäre Ebene: soziale und wirtschaftliche Belastungen von Familien (z. B. Partnergewalt, Arbeitslosigkeit, gestörte Eltern-Kind-Beziehung).

! Hinweis:

In Fällen gewalttätiger Partnerschaftskonflikte besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass auch im Haushalt lebende Kinder misshandelt werden. Auch wenn Kinder nicht unmittelbar von diesen Gewalttätigkeiten betroffen sind, so sind sie doch als Opfer zu sehen. Weiterführende Informationen zum Thema häusliche Gewalt gegen Partner, zum Gewaltschutzgesetz sowie zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten siehe auch www.stmas.bayern.de/gewaltschutz/familie.

  • Soziale/kommunale Ebene: z. B. fehlendes sozial unterstützendes Netzwerk der Familie, Kriminalitätsrate in der Gemeinde, sozialer Brennpunkt.
  • Gesellschaftlich-kulturelle Ebene: z. B. hohe Armutsquote, Toleranz gegenüber aggressiven/gewaltförmigen Konfliktlösungen oder Erziehungsgewalt (je nach ethnischer Herkunft gehört Gewalt in der Familie leider nach wie vor zu teilweise gängigen und akzeptierten Verhaltensmustern), Macht- und Beziehungsgefälle zwischen den Geschlechtern, grenzenloses und inflationäres Angebot gewalthaltiger und pornografischer Darstellungen in den Medien.

! Hinweis:

Eine besonders schwere Form ritualisierter Gewalt, basierend auf ethnischen Hintergründen, stellt die Genitalverstümmelung dar. Diese verletzt elementare Menschenrechte, vor allem das Recht auf Gesundheit und Schutz der körperlichen Unversehrtheit. Obwohl die Genitalverstümmelung deshalb heute weltweit als Menschenrechtsverletzung geächtet ist, sind dennoch jedes Jahr viele Mädchen vorwiegend in Afrika in Gefahr, Opfer der Verstümmelung zu werden. Alle Formen der Praktik sind irreversibel und können zu weiteren schweren physischen und psychischen Schäden führen. Siehe hierzu insbesondere www.taskforcefgm.de und www.bmz.de/de/was_wir_machen/themen/menschenrechte/frauenrechte/arbeitsfelder_und_instrumente/genitalverstuemmelung.

Innerhalb dieser Ebenen und auch zwischen diesen bestehen zahlreiche Wechselwirkungen, bei denen spezifische Faktoren sowie deren Kombinationen im Gesamtkontext die Wahrscheinlichkeit von Kindesmisshandlungen erhöhen oder auch reduzieren können. Im Rahmen von Risikoeinschätzungen und diagnostischen Maßnahmen ist deshalb neben der Berücksichtigung von Risikofaktoren auch das Vorhandensein bzw. Fehlen von Schutzfaktoren und Ressourcen ein wichtiges Kriterium.

Risiko- und Schutzfaktoren

Besonders wichtig für Prävention, Beratung und Therapie ist es, Risiko- und Schutzfaktoren rechtzeitig zu erkennen, damit Risikofaktoren minimiert und Schutzfaktoren gestärkt werden können. Es gibt dabei eine Vielzahl möglicher Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Faktoren. Dies rechtzeitig zu erkennen und adäquat im Sinne des Kindeswohls zu handeln ist die zentrale Herausforderung interdisziplinärer Zusammenarbeit und ist deshalb auch eine der Hauptaufgaben des KoKi-Netzwerkes frühe Kindheit (siehe Ziffer 2.4.2.).

Risikofaktoren

Risikofaktoren, die eine positive und gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gefährden, sind insbesondere:29

  • Kindbezogene Risikofaktoren: z. B. Alter und Geschlecht, verzögerter Entwicklungsstand, Erkrankungen, Regulations- und Verhaltensstörungen, Behinderung.
  • Familiäre und soziale Risikofaktoren: z. B. chronische Disharmonie in der Familie wie Partnerkonflikte, Partnerschaftsgewalt, Trennung, Scheidung etc., niedriger sozioökonomischer Status, sozioökonomische Belastungen wie Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, Überschuldungssituation, schlechte Wohnverhältnisse etc.
  • Elterliche Risikofaktoren: z. B. sehr junge Eltern, alleinerziehender Elternteil, starke berufliche Anspannung, schwere Erkrankungen, mangelndes Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, belastete eigene Kindheit, eigene Misshandlungerfahrungen, psychische Störungen wie z. B. Depressionen, Angst-/Persönlichkeitsstörungen, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, mangelnde Problemlöse-/Stressbewältigungskompetenzen, Beziehungsabbrüche, Kriminalität.
  • Störung der Eltern-Kind-Beziehung: z. B. eingeschränkte elterliche Beziehungs- und Erziehungskompetenzen etwa durch mangelnde/fehlende positive Beziehungsvorerfahrungen, Hinweise auf elterliche Ablehnung oder Desinteresse gegenüber dem Kind etc.

Oft wirken mehrere Risikofaktoren zusammen. Dabei ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Zunahme der Faktoren und der Intensität kindlicher Verhaltensprobleme festzustellen. Die möglichen Auswirkungen von Risikofaktoren dürfen auch nicht getrennt von den „kompensatorischen“ Schutzfaktoren bewertet werden, die die Folgen von Risikofaktoren mildern oder sogar aufheben können.30 Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen entsteht beispielsweise oft nicht aus extremen und unerwartet eintretenden Belastungssituationen, sie entwickelt sich vielmehr aus der „Normalität von Familien, die in Belastungssituationen hineingeraten, ohne rechtzeitig und angemessen hierauf Lösungsmöglichkeiten entwickeln zu können“.31

Schutzfaktoren

Schutzfaktoren für Kinder und Jugendliche sind insbesondere:32

  • Kindbezogene Ressourcen: z. B. überdurchschnittliche Intelligenz, spezielle Talente, Selbstvertrauen und positives Selbstwertgefühl, robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament, optimistische Lebenseinstellung, aktives Bewältigungsverhalten, konstruktive Problemlösestrategien, Selbsthilfefertigkeiten wie z. B. Wissen um soziale Unterstützung bei Problemen, Fähigkeit, sich psychisch und räumlich von ungünstigen Einflüssen zu distanzieren.
  • Familiäre Ressourcen: z. B. verlässliche und sichere Bezugs- und Bindungsperson (Eltern, Großeltern etc.), familiärer Zusammenhalt, positives Bewältigungsverhalten innerhalb der Familie in Bezug auf Probleme/Krankheiten etc.
  • Soziale Ressourcen: z. B. positives soziales Netzwerk (Sportverein, Freizeitgruppen, Kindertagesstätte, Schule etc.), verlässliche unterstützende Freundschaften und Beziehungen, soziale Unterstützung (z. B. Angebote der Kinder- und Jugendhilfe), Qualität der Schule als soziale Institution mit positiven Schulerfahrungen des Kindes oder Jugendlichen.

Zur Reduzierung von Risikofaktoren und zur Stärkung von Schutzfaktoren bedarf es differenzierter Angebote je nach Alter des Kindes.

Beispiel: Unterstützung von Eltern mit Schreibabys

Wenn Säuglinge ohne erkennbaren Grund in den ersten Monaten nach der Geburt stundenlang schreien und eine medizinische Ursache ausgeschlossen ist, liegen die Gründe hierfür oft in vorübergehenden Anpassungsproblemen des Schlaf-Wach-Rhythmus. Ursachen können aber auch soziale, psychische und körperliche Belastungsfaktoren sein. Das unstillbare Schreien bringt eine erhebliche Belastung für die entstehende Eltern-Kind-Beziehung mit sich. Hier ist die frühzeitige Unterstützung der Eltern besonders wichtig.

! Hinweis:

Aufklärung darüber, wie gefährlich falsche Reaktionen, insbesondere das Schütteln eines Babys sind (siehe hierzu Ziffer 3.1.2.5.), sollte bereits während der Schwangerschaft durch Fachärzte für Frauenheilkunde und durch die betreuende Hebamme bzw. den Entbindungspfleger erfolgen. Wichtige Anlaufstellen zur Diagnose und Behandlung von Schreibabys sind vor allem Sozialpädiatrische Zentren, Kinder- und Jugendärzte sowie Allgemeinärzte. Ergänzend zu den medizinischen Angeboten wurden in Bayern seit 2008 an 46 Standorten spezielle Beratungsangebote für Eltern mit Schreibabys geschaffen. Hier erhalten Eltern wohnortnah, schnell und effektiv Hilfe. Häufig ist auch die Vermittlung zusätzlicher Hilfen, beispielsweise bei der Kinderbetreuung, oder die Weitervermittlung zu spezieller ärztlicher Betreuung notwendig.

Weiterführende Informationen:

  • Ansprechpartner bei Regulationsstörungen generell: Ärztinnen und Ärzte, insbesondere Kinder- und Jugendärzte.
  • Eine Übersicht zu einzelnen Beratungsstandorten für Eltern mit Schreibabys sowie weitere Informationen hierzu sind unter www.familienbildung.bayern.de (Stichwort: Schreibabys) sowie www.lgl.bayern.de/gesundheit/praevention/kindergesundheit/schuetteltrauma abrufbar.
  • Wichtige Anlaufstellen zu Auskunft und Vermittlung hilfreicher Angebote sind insbesondere die KoKis (www.koki.bayern.de).
  • Die regionalen Erziehungsberatungsstellen sowie weitere Informationen hierzu sind unter folgenden Adressen zu finden: www.lag-bayern.de/erziehungsberatung/beratungsstellen sowie www.erziehungsberatung.bayern.de.
  • Ansprechpartner zum rechtzeitigen Erkennen von Entwicklungsverzögerungen oder -gefährdungen sind ferner Frühförderstellen sowie Sozialpädiatrische Zentren. Informationen zur Frühförderung in Bayern sind abrufbar unter www.stmas.bayern.de/teilhabe/fruehfoerd.
28 Siehe hierzu Deegener/Körner, aaO, S.19 ff.; ferner BMFSFJ, 13. Kinder- und Jugendbericht, 2009, S. 63 ff. sowie Wolff, Schone sowie Ziegenhain in Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung; S. 45 ff., S. 52 ff. sowie S. 120 f.
29 Deegener/Körner, aaO, S. 24 ff.; weitere Beispiele siehe dort; ferner Fegert in Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung, S. 198 f.
30 Siehe insbesondere Deegener/Körner, aaO, S. 25 f., 30 sowie Fegert in Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung, S. 198 f.
31 Schone in Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung, S. 52 ff., 54.
32 Siehe insbesondere Deegener/Körner, aaO, S. 30 ff., dort mit weiteren Beispielen.